Ausgabe 20 · Juni 2015

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Shared Space – Eine Chance für Radler?

von Anja Hänel und Jörg Thiemann-Linden

Bild 1: Hannover, Platz der Weltausstellung
Von: Katalin Saary, Netzwerk Shared Space

Der Anteil des Radverkehrs ist in den letzten Jahren in vielen Städten deutlich gestiegen. Im bundesweiten Durchschnitt lag er 2008 bei 11 Prozent aller Wege (MID 2008). Der Nationale Radverkehrsplan der Bundesregierung hält 15 Prozent im Jahr 2020 für möglich. In etlichen Städten wird diese Zielmarke sogar jetzt schon überschritten, und zwar nicht nur von den bekannten Fahrradstädten wie Oldenburg, Münster und Freiburg. Auch Göttingen, Bremen, Heidelberg, Karlsruhe, Cottbus und München haben heute schon Radverkehrsanteile von über 15 Prozent (Mobilitätserhebungen der Städte – VCÖ 2013). Doch was ist mit den Städten, die sich mit der Förderung des Radverkehrs nach wie vor schwer tun? Wie gelingt es hier, die Menschen für das Radfahren zu gewinnen?

Nicht immer sind Steigungen im Ort oder eine ältere, nicht fahrradaffine Bevölkerung für eine Stagnation im Radverkehr verantwortlich, zumal mit dem E-Rad auch topografische Hürden zukünftig nicht mehr so ins Gewicht fallen. Schaut man 60–80 Jahre zurück, so lag der Fahrradanteil in Deutschland deutlich höher als heute in den Fahrradhochburgen. Und das hatte vor allem einen Grund: Die Verfügbarkeit und der Raum, den das Auto in der Stadt eingenommen hat, war deutlich geringer.

Erste Schlussfolgerung: Der Autobesitz lässt sich mit kommunalen Mitteln nicht steuern, aber die Aufteilung des Stadtraumes ist zentrale Aufgabe der Kommunen. Welchen Einfluss eine nachhaltige, intelligente Stadtplanung haben kann, zeigen die Erfolge in Städten wie Kiel, Karlsruhe und Göttingen. Ihnen ist es in wenigen Jahren gelungen, durch Straßenraumumverteilung und Fahrradparkkapazität am Bahnhof zu den traditionellen Fahrradstädten wie Münster, Bremen, Oldenburg, Freiburg oder Erlangen aufzuschließen.

Doch was tun, wenn der Platz für neue Radwege oder Radfahrstreifen nicht reicht, es an Geld fehlt oder aus ökologischen Gründen auf eine weitere Bebauung verzichtet werden soll? Schlaue Lösungen sind gefragt, gerade dort, wo die unterschiedlichen Nutzungsansprüche auf engstem Raum aufeinander treffen.

Bild 2: Biel (Schweiz), Begegnungszone Zentralplatz
Von: Katalin Saary, Netzwerk Shared Space

Hier kommt die Idee des Shared Space ins Spiel. Schon der Name zeigt den Weg: Wenn Raum knapp wird, müssen wir ihn teilen! Damit dies nicht auf Kosten der schwächeren Verkehrsteilnehmer geht, sind jedoch einige grundlegende Regeln zu beachten:

  • Runter mit der Geschwindigkeit
    Wenn sich Radler, Fußgänger und Autofahrende enge Räume möglichst gleichberechtigt teilen sollen und dabei auch noch die Aufenthaltsqualität für Anwohner und Besucher steigen soll, geht das nur, wenn die Geschwindigkeiten sinken. Denn je höher die Geschwindigkeit und je unterschiedlicher die Geschwindigkeiten der verschiedenen Verkehrsteilnehmer ist, desto größer muss der erforderliche Sicherheitsabstand zwischen den einzelnen Verkehrsteilnehmern sein, desto lauter ist der Verkehr, desto stärker ist der Tunnelblick ausgeprägt, der uns davon abhält, andere wahrzunehmen. Shared Space führt dazu, dass sich die Geschwindigkeiten von Auto- und Radverkehr annähern und der Verkehr geschmeidiger fließt.
  • Miteinander statt Pochen auf der eigenen Fahrspur
    Der Verkehr ist einer der Lebensbereiche, die sehr stark durch rechtliche Regelungen bestimmt ist. Gleichzeitig ist er der Bereich, in dem die Deutschen Regelübertritte zum großen Teil als Kavaliersdelikte betrachten. Im Normalfall hat jeder Verkehrsteilnehmer seine eigene Fahrspur, auf der er möglichst ungestört und schnell fahren möchte. Ein Problem entsteht dann, wenn sich die Fahrspuren im Kreuzungsbereich treffen. Shared Space verzichtet auf die getrennten Fahrspuren und setzt auf den »Gemeinschaftsraum«. Das heißt, jedem Verkehrsteilnehmer wird schon durch die Gestaltung bewusst, dass er sich mit den anderen arrangieren muss. Das fördert die gegenseitige Rücksichtnahme. Diese zwei grundlegenden Regeln sind vor allem dazu da, die Dominanz des Autos zu aufzubrechen. Dies führt zu mehr Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer. Denn nur, wer sich sicher fühlt, fährt auch gerne und häufig Rad.
Bild 3: Radfahrer, Fußgänger und Kraftfahrer teilen sich den Raum, Domplatz in Speyer
Von: Bernd Sluka

Analysiert man nun die Probleme im Radverkehr, wird schnell klar, wo die Gefahren liegen: Bundesweit ist an 74 Prozent aller Fahrradunfälle mit zwei Beteiligten ein Auto beteiligt (VCD Städtecheck 2011). Das Hauptproblem ist dabei immer noch die zu hohe Geschwindigkeit des Autoverkehrs und die mangelnde Sichtbarkeit der Radfahrenden. Dazu kommt, dass viele Radler sich selbst gefährden, weil sie unsicher sind und die wirklichen Gefahrenursachen nicht richtig einschätzen. So fahren Jugendliche und auch viele Erwachsene auf dem Gehweg, oft auch in falscher Richtung, ohne sich darüber klar zu sein, dass dies ein erhöhtes Unfallrisiko darstellt. In aktuellen Studien zur Fahrradsicherheit wurde ermittelt, dass das Unfallrisiko bis zum Fünffachen steigt, wenn regelwidrig die linke Straßenseite genutzt wird. [1]

Wie häufig Radler als »Geisterfahrer« unterwegs sind, ist aber auch davon abhängig, wie der Radverkehr geführt wird. Die BASt (Bundesanstalt für Straßenwesen) hat 2009 eine Studie zum Unfallrisiko und zur Regelakzeptanz von Fahrradfahrern herausgegeben. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Anteil regelwidrig auf der linken Straßenseite Radelnder auf Radwegen bei 20 Prozent liegt. Wird der Radverkehr auf der Fahrbahn geführt, sinkt der Anteil der Geisterfahrer deutlich.

Nochmals zurück zur Idee Shared Space und den Chancen für den Radverkehr.

Bild 4: Neue Straße vor dem Ulmer Rathaus
Von: Bernd Sluka

In einem Shared Space wird der Radverkehr bei Geschwindigkeiten, die in der Regel zwischen 20 und 30 km/h [2] liegen mit dem Autoverkehr gemeinsam geführt. Dies ist zentral für die Reduzierung der Radunfälle, weil es die beiden obengenannten Ursachen Geschwindigkeit und mangelnde Sichtbarkeit deutlich reduziert und Radfahrenden Mut macht, sich regelkonform zu verhalten.

Da die Gestaltung in einem Shared Space Autofahrende dazu bringen soll, rücksichtsvoller und langsamer zu fahren, können sich Radler in einem Shared Space sicherer fühlen. Sie können sich ihren Platz auf der Straße nehmen, wenn der Autoverkehr nicht neben dem Radstreifen mit Tempo 50 oder mehr an ihnen vorbeirauscht.

Die Sichtbarkeit ist für die Kommunikation zwischen den Verkehrsteilnehmern wesentlich. Parkflächen sollten deshalb in Shared Spaces reduziert werden. Wenn die Fahrspuren dadurch zu breit werden, können sie z. B. in Fahrradparkplätze umgewandelt werden, die die Sicht nicht behindern. Auch das ist ein Vorteil für die Radler.

Durch die Reduzierung von Parken und Halten fällt auch das gefährliche Umfahren von parkenden Autos weg. Auch der weitgehende Verzicht auf Ampeln und das damit verbundene Stopp-and-Go in einem Shared Space, kommt besonders Radlern zu Gute. Diese reagieren besonders sensibel auf ungleichmäßige Verkehrsabläufe mit ständigen Stopps, da sie sich aus eigener Kraft fortbewegen und jeder Stopp Energie kostet.

Das Konzept Shared Space ist somit darauf ausgelegt, den Radverkehr sicherer und attraktiver zu machen, gerade dann, wenn der Raum eng ist. Um dieses harmonische Miteinander der Verkehrsteilnehmer zu erreichen, sind eine gute Gestaltung und eine umfassende Akteursbeteiligung zentrale Erfolgsfaktoren.

Fazit

Auch wenn Shared Space den Radverkehr eindeutig fördert, ist es nicht ausschließlich als Maßnahme zur Radverkehrsförderung zu sehen. In einem Shared Space müssen auch Radler Rücksicht üben, z. B. gegenüber Fußgängern. Außerdem ist Shared Space keine Lösung für überall. Die Idee der Gemeinschaftsräume kann und wird nur dort funktionieren, wo auch wirklich unterschiedlichste Nutzungen ihren Raum einfordern: zum Beispiel in gut besuchten Geschäftsstraßen, in Bereichen, wo Menschen häufig von einer Seite zur anderen queren, oder auf Straßen, wo viele Radfahrer unterwegs sind, abbiegen und kreuzen.

Der VCD (Verkehrsclub Deutschland e. V.) ist Mitbegründer des Netzwerks Shared Space – zusammen mit SRL (Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e. V.), dem ADFC (Allgemeiner Deutschen Fahrradclub e. V.) und dem FUSS e. V. (Fachverband Fußverkehr Deutschland Fuß e. V.

Mehr Informationen unter:

Verkehrsablauf in Shared-Space-Bereichen

Bild 5: Gegenseitige Rücksichtnahme und moderate Geschwindigkeiten im Shared Space, hier: Domplatz in Speyer, verkehrsberuhigter Bereich (Schrittgeschwindigkeit), Videosequenz
Von: Bernd Sluka
Bild 6: Einfaches Queren auch vielbefahrener Straßen durch Gestaltung als Shared Space, hier: Neue Straße in Ulm (Vorfahrtstraße mit Tempo 30, ca. 13.000 Kraftfahrzeuge pro Tag) Videosequenz
Von: Bernd Sluka

Gesucht: Ihre Erfahrungen

Die Auswirkungen von Shared Space für Radfahrer sind noch weitgehend unerforscht und werden wenig angesprochen. Deswegen sind wir gespannt, wie Sie das sehen.

Teilen Sie uns Ihre Erfahrungen – positive und negative – als Radfahrer im Shared Space mit! Funktioniert die gegenseitige Rücksichtnahme? Wird alles viel einfacher? Werden Sie dort behindert oder aufgehalten? Fühlen Sie sich sicher?

Wir freuen uns auf Ihre Leserbriefe und Artikel zu dem Thema! Die Redaktion.

Zu den Autoren

Anja Hänel, Planerin und Moderatorin. Seit 2008 beim VCD als Referentin für Mobilitätsbildung und Verkehrssicherheit und Mitbegründerin des Netzwerk Shared Space. Autorin und Mitherausgeberin des Buches »Shared Space – Beispiele und Argumente für lebendige öffentliche Räume« im AKP Verlag. (Bild von Andreas Labes)

Jörg Thiemann-Linden, Stadt- und Verkehrsplaner (SRL) in Köln; 2009–2015 Radverkehrsforschung im Difu in Berlin, u.a. Herausgeber der Reihen »Forschung Radverkehr / Cycling Expertise«. Aktiv in der FGSV zum technischen Regelwerk der ERA und im Netzwerk Shared Space aus SRL, VCD, ADFC, FUSS.

Anmerkungen

  1. Nach Untersuchungen der Planungsgemeinschaft Verkehr, Hannover (PGV) liegt die mittlere Unfallrate bei Rechtsfahrern bei drei bis vier Unfällen je 10 Millionen Radkilometer. Bei links fahrenden Radfahrern liegt sie im Mittel bei 15 bis 20 Unfällen/10 Millionen Radkilometer (Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) 2010). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch die BAST 2009.
  2. Da es im deutschen Straßenverkehrsrecht »Shared Space« nicht gibt, können auch niedrigere Geschwindigkeiten festgelegt werden, etwa durch die Ausweisung eines verkehrsberuhigten Bereiches. Wird nichts beschildert, gilt die Höchstgeschwindigkeit, die Gestaltung des Straßenraumes sollte jedoch keine höheren Geschwindigkeiten als 30 km/h fördern.