Ausgabe 3 · November 2006
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Die wohltemperierte Felge
Gedanken zu den Ursachen von Abfahrts-Reifenpannen und erste »Downhill-Heizereien« im Dienst der Wissenschaft
In einer wissenschaftlichen Arbeit könnte die Themenbeschreibung etwa »Plötzlicher Reifendruckverlust bei Abfahrten – Einfluss der Bremswärme von Felgenbremsen auf die Betriebssicherheit des Felge-Drahtreifen-Systems« lauten. Die mir bekannten Versagensarten:
Reifenabschäler
Der Reifenfuß schiebt sich an einer Stelle über das Felgenhorn, der Schlauch kommt ans Licht und platzt. Das geschieht typischerweise bei längeren Abfahrten mit mehr oder weniger heißgebremster Felge. »Weniger« schreibe ich, weil mir mal ein Hinterreifen bei einer Passabfahrt abgeschält ist, kurz nachdem ich losgefahren war. Ich hatte nur wenig und kurz gebremst; an dem kalten Morgen kann die Felge auf dem schwachen Gefälle nicht mehr als lauwarm geworden sein (siehe Foto). Andere Reifenabschäler ereignen sich im Flachland, ganz ohne Einsatz der Bremsen.
Die Temperatur ist also nur ein Einflussfaktor. Als primäre Ursache
vermute ich, abgesehen von ohnehin ungeeigneten »Niederdruck«-Felgen (bei
manchen Tiefbettfelgen können
Jedenfalls ereignet sich ein auffällig großer Teil der Abschäler bei langen Abfahrten, insbesondere bei »Angstbremsern«, die ihre Felgen ordentlich aufheizen; die Temperaturerhöhung hat also ein wesentlichen Einfluss.

Felgenband
Wohl selten, aber es kommt vor: Das Kunststoff-Felgenband verformt sich
durch Erhitzung, verschiebt sich, der Schlauch dringt in die Hohlkammer
der Felge ein und platzt. Das passierte mir, als ich mich mit beladenem
Reiserad in den Dolmiten verfahren hatte und einen steilen, verblockten
Waldweg herunterholperte. Vorne bremsen war nicht möglich. Durch meine
Dauerbremsung hinten mit etwa
Den Rest erledigte die Walkarbeit des eher mäßig aufgepumpten Reifens (
»Schlauchplatzer« und »Reifenplatzer«
In Anführungszeichen, weil oft gehört, aber bisher nicht belegt. Reifenplatzer bedeutet Versagen der Karkasse, wofür mir eher Vorschädigung (Gewebeverletzung, Walkschaden, Versprödung oder Verschleiß) oder extremer Überdruck als Ursache einfällt als Erhitzung. Falls sie doch einen nennenswerten Einfluss hat, muss die Schadenszone im erhitzten Bereich liegen, also im Bereich des Kontakts mit der Felge, denn der Reifen ist kein guter Wärmeleiter.
Auch immer wieder berichtet werden Schlauchplatzer: Reifen, Felge und Felgenband sind in Ordnung, alles sitzt korrekt, aber der Schlauch platzt auf der Abfahrt. Warum kann er das tun? Ist es wirklich möglich, Felgen so heißzubremsen, dass sich die Elastomerschicht zersetzt? Bei welcher Temperatur versagen Butylschläuche? Oder, auch eine interessante Hypothese, wandert der Drahtreifen auf der erhitzten Felge unter der Bremskraft und zieht den Schlauch mit, bis der Ventilfuß ausreißt?
Aber wie gesagt, diese Schlauch- und Reifenplatzer sind nicht belegt. Das Problem ist, dass in den mir bekannten Fällen die Behaupter dieser Vorgänge – etwa bei Anfragen an Sachverständige oder den ADFC zur Klärung von Haftungs- oder Gewährleistungsfragen – auf Rückfragen bisher keine verwertbaren Informationen lieferten. Viele scheinen nicht genau hingeschaut zu haben, nicht wenige haben Reifen und Schlauch gleich weggeworfen – aber ihre technischen Fragen zu nixgenauesweißmannicht wollen sie trotzdem beantwortet haben …
Wir sind dankbar für präzise authentische Beschreibungen dieser Phänomene. Falls Fotos vorhanden oder machbar, bitte mitschicken – am besten natürlich gleich das Corpus Delicti, den geplatzten Abschnitt des Reifens oder Schlauchs. Wenn es unterwegs passiert: die Teile mitnehmen, beim Reifen den Bereich um die Schadenszone rausschneiden, Drähte aufbrechen (z. B. biegen mit Schraubstock oder Zangen) und rausziehen, dann verbleibt ein gut verstaubarer, flexibler »Lappen«
Kleine Räder
Kleine Laufräder bieten der Felgenbremse weniger Kühlfläche und thermische Masse. Sie werden also heißer und sie heizen sich schneller auf. Liege- und Faltradler sind im Gebirge im Nachteil; die Lieger zusätzlich durch ihren niedrigeren Luftwiderstand. Schließlich ist es nur die »Luftbremse«, die uns bei mittleren bis hohen Geschwindigkeiten davor bewahrt, die Felgen zu überhitzen.
Was passiert bei der Erhitzung? – in’s Blaue gefragt …
- Ab welchen Temperaturen können sich Reifen und Schlauch können sich durch die Hitze zersetzen oder verbrennen?
- Wächst der Reifenumfang im Sitzbereich relativ zum Felgenumfang (die Felge dehnt sich ja wohl auch aus)?
- Was ist mit der Reibung (Reifen-Felge, Reifen-Schlauch, Schlauch-Felge)? Inwieweit nimmt sie bei Erhitzung zu oder ab?
- Inwieweit erhöht sich der Druck?
Nur auf die letzte Frage, von Peter Eland in seinem lesenswerten »Buyer’s Guide Brakes« in Velovision 22 angesprochen, finde ich eine schnelle Antwort. Peter stellt die Druckerhöhung als alleinige Ursache der Reifenabschäler dar.
Aus der allgemeinen Gas-Zustandsgleichung
Ein Beispiel: Ich fahre mit
Das ist nicht viel, finde ich. Selbstverständlich erwarte ich, dass sich
ein Reifen mit z. B. »max.
Fazit der Testrechnung: Die Druckerhöhung durch Erwärmung scheint nicht kritisch. Nur bei sicherheitstechnisch kritischen Reifen-Felgen-Kombinationen, die keinen nennenswerten Überdruck vertragen, kann sie Abschäler auslösen. Über die Auswirkung der anderen Folgen der Felgenaufheizung sagt das natürlich nichts aus.
Temperaturmessstreifen
Die Felgentemperatur ist am einfachsten mit selbstklebenden Messstreifen messbar (Fotos), die es in diversen Varianten für verschiedene Temperaturbereiche und Abstufungen gibt, typischerweise in Zehnerpacks. Sie bestehen aus einer Reihe von Feldern, die sich entweder vorübergehend oder bleibend verfärben, wenn die feldspezifische Temperatur erreicht oder überschritten wird. Schmidt Maschinenbau benutzt solche Streifen für Messungen an SON-Nabendynamos mit Scheibenbremsen. Andreas Oehler war so nett, mir kurz vor meinem letzten Sommerurlaub zwei Sorten zu schicken: Reversible Messstreifen von 30 bis 60°C und irreversible von 71 bis 110° C.

Ich bestückte beide Felgen meines Reiserads mit je einem dieser Streifen. Weil sie etwas zu lang waren, um zwischen die Speichen zu passen, musste ich sie an den Enden kürzen. Sie schienen trotzdem fest und wasserdicht auf den glatten, entfetteten Felgen-Innenflächen zu kleben. Aber nicht auf Dauer, wie die Fotos zeigen: Während meiner Tour durch das Massif Central und – großteils auf den in dem Werk »La Travesia de los Pirineos en BTT« von Jordi Laparra beschriebenen Trails – durch die Pyrenäen erlebten die Streifen Sonne, Kälte, Nässe, Matsch und vorbeistreifende Gegenstände; bisweilen wurden sie tief in Flüsse und Bäche getaucht. Sie wurden bald undicht und machten zum Schluss sogar Anstalten, sich abzupellen. Ich bezweifle, dass diese Probleme nicht aufgetreten wären, wenn ich sie nicht gekürzt hätte. Die nächsten Messstreifen werde ich nach dem Aufkleben komplett mit transparentem Silikonkautschuk beschichten, wie es bei Dehnmessstreifen üblich ist. Das klebt und dichtet nicht nur, es schützt auch vor Schrammen durch vorbeistreifende Steine, Geröll, Sand, Äste …

Es war von Anfang an klar, dass nur die irreversiblen Streifen
interessante Ergebnisse liefern können. Die reversiblen sind am Fahrrad in
der Praxis nur mit zu großer Zeitverzögerung abzulesen (die Felgen kühlen
schnell ab), und der aktuelle Temperaturbereich bis
Die Messerlebnisse
Mein Urlaubstour mit Aufrecht-Reiserad und zweck- statt
gewichtsoptimierten Campinggepäck war
Die Testoterm-Streifen, deren Felder beim Erreichen der jeweiligen
Grenztemperatur schwarz werden, blieben also, abgesehen von Flecken durch
Wassereinbruch, die das Ablesen etwas erschwerten, erstmal weiß. Ich
musste mich regelrecht zwingen, die Felgen heißzubremsen. Im Massif
Central hatte ich ohnehin kein Gefälle passiert, das ich für einen solchen
Versuch für steil genug hielt. In den Pyrenäen, nach 11 Tagen und
Die erstaunliche Diagnose: Ein Flicken hatte sich vom Schlauch gelöst. Der
Einzige. Er war ein Jahr und etwa
Für die weiteren Versuche stellte ich höhere Anforderungen: Lange Abfahrt,
Gefälle steil genug und halbwegs konstant, nicht zu kurvig, glatter,
sauberer Asphalt, verkehrsarm. Das dauerte. Der zweite Versuch fand erst
zwei Wochen später statt. Diesmal bremste ich nur vorne (eine Bremse wird
schneller heiß, im Reparaturfall ist das Vorderrad leichter auszubauen).
Die Geschwindigkeit hielt ich zwischen 12 und
Danach gab es keinen Ausfall mehr, obwohl ich die Temperatur noch um
mindestens

Nachträgliche Beobachtungen zum Thema thermisch gelöster Flicken
Zuhause schaute ich mir den Schlauch, der im zweiten Hitzeversuch schlagartig inkontinent geworden war, weil sich der einzige Flicken gelöst hatte, nochmal an – bei Raumtemperatur. Der testhalber aufgepumpte Schlauch verlor erstaunlicherweise nur wenig Luft, das ging schon Richtung »Schleicher«. Woran liegt das? Gab es nach der »Heiß-Devulkanisation« eine nachträgliche »Kalt-Revulkanisation«? Oder lag es daran, dass der lose Schlauch nur einen geringen Druck hatte, weil er nicht im Reifen eingezwängt war?
Zur Klärung der letzten Frage baute ich den Schlauch in ein adäquates
Laufrad ein und pumpte ihn auf
Aha. Ich kann mir zwar vorstellen, dass die Walkarbeit an der bewegten Maschine den Druckverlust signifikant beschleunigt – aber so extrem?
Fazit
Abgesehen von dem Ärger mit den Flicken hat das Felge-Reifen-System funktioniert. Die Contis hielten auf den Alesa-Felgen tadellos; ich habe keine Veränderung (z. B. verrutschtes Ventil) entdeckt.
Eine Erkenntnis immerhin: Leute mit heißen Felgen (Angstbremser, Trailbremser, Falt- und Liegeradcamper …) sollten doch besser mit ungeflickten Schläuchen zur Alpentour starten. Oder besser flicken können als ich.
Ketzerische Anmerkung zum Schluss: Scheibenbremsen haben zwar eher größere Fadingprobleme – aber eben nur diese; der Reifen bleibt drauf und behält seinen Druck.
Das Kleingedruckte: Testdaten
Systemgewicht | ca. |
---|---|
Reifen |
V: Conti Travel Contact 42-622, eff. Breite H: Conti Contact 47-622, Breite |
Schläuche | Schwalbe SV 17 Butyl-Gruppenschläuche, Presta, Druck ca. |
Felgen | Alesa Sputnik, 622-19, 36-Loch (hohe Bremsflanken) |
Felgenband | Gewebeband selbstklebend, Velox / Beiersdorf Leukoplast |
Bremsen | V-Brakes Promax, Beläge: Koolstop rot, Booster, Weinmann-Renngriffe mit Zusatzhebeln |
Messstreifen | Testoterm irreversibel, 8 Stufen, 71–110°C, aufgeklebt auf Felgen-Innenseite zwischen zwei Speichen |
Test 1 |
Betonweg, uneben, sehr steil, bis über |
Test 2 |
Asphalt, gerade, Gefälle schwankend zwischen 5 bis |
Test 3 |
Asphalt, wenige sehr enge Kurven (Bremspausen), Gefälle ca. |
Test 4 |
Fortsetzung von Test 3 mit Restwärme, |
Zum Autor
Rainer Mai ist
Fahrrad-Sachverständiger in Frankfurt am Main, Maschinenbauingenieur,
Alltags- und Reiseradler, Mitgründer und Betreuer einer
Selbsthilfewerkstatt, Mitinitiator der »AG Verflixtes Schutzblech«.