Ausgabe 31 · März 2021

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Radfahren mit Kind im Alltag

von Ricarda Heymann

Ich bin alleinerziehende Mutter einer knapp vierjährigen Tochter, 35 Jahre alt und lebe schon immer autofrei – in Kleinstädten, Mittelstädten, Großstädten und auf dem Land in unterschiedlichen Bundesländern. Ich radele das ganze Jahr über, zwischen 200 und 300 Wochenkilometer. Als Kindertransportvehikel habe ich schon einiges ausprobiert und immer wieder an die neuen Transportbedürfnisse angepasst: Anhänger, Kindersitz hinten, Lastenrad mit Kindersitz vorne, Longjohn mit Kiste, Tandemnachläufer, Hase Pino, Tochter auf ihrem Rad nebenher. Gespannfahren mit Hänger empfinde ich als sehr unangenehm und anstrengend und wird nur bei extrem schlechtem Wetter praktiziert. Die anderen Transportoptionen finde ich alle vorteilhaft mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen.

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Das Fahrrad ist für mich der Inbegriff von Lebensqualität und Lebensfreude. Nach fast vier Jahren Radeln mit Kind habe ich meine – freilich radenthusiastisch gefärbten – Beobachtungen darüber gesammelt und möchte hier beschreiben, welchen Effekt unsere Familienmobilität auf meine Tochter hat.

Gemeinsam mehr erleben

Was das Mitfahren auf dem Rad für Kleinkinder so attraktiv macht, ist der Erlebnisreichtum und die Reizfülle des Unterwegsseins. Im Auto ist das Kind von der Außenwelt abgeschirmt und hat eine schlechte Sicht. Außerdem ist es sehr stark fixiert und langweilt sich schnell. Auch wenn ein Kind auf dem Fahrradkindersitz angeschnallt ist, kann es doch die Bewegung des Rades mitmachen. Zudem erlebt es unterwegs so vieles: Geräusche und Gerüche, Wärme, Kälte, Gespräche mit Passanten. Das Umwelterlebnis ist zwar nicht so direkt wie bei einem ungelenkten Spiel in der Natur, aber trotzdem kann das Kind vieles wahrnehmen. Meine Tochter langweilt sich deshalb selten unterwegs, auch nicht, wenn wir länger fahren.

Unsere gemeinsam zurückgelegten Strecken sind auch gemeinsame Erlebnisse, die wir miteinander teilen. Es kommt oft vor, dass wir noch an den folgenden Tagen über Tiere, Menschen oder Besonderheiten am Wegesrand sprechen. Auf dem Rad sind wir räumlich nah beieinander und können uns unterhalten. Ich kann während der Fahrt ihre Hand nehmen oder ihre Mütze über die Ohren ziehen.

Ich habe auch den Eindruck, dass sich das unmittelbare Gefühl der Fortbewegung, also das Mit-hineingenommen-Werden in die Fahrdynamik des Rades, auf meine Tochter eher euphorisierend oder entspannend auswirkt, je nach Energiepegel. Ich messe das unter anderem daran, dass sie auf dem Fahrrad sehr oft singt. Oft singen wir auch gemeinsam – wer braucht da ein Autoradio? Da meine Tochter anders als im Auto keine Ungeduld, Langeweile oder Entkommenswünsche aufbaut, führen unsere Radstrecken normalerweise eher zu einer Entspannung und sind eigentlich nie mit Stressaufbau verbunden – warme Kleidung, ausreichend Wasser und Proviant immer vorausgesetzt.

Vielfältige Erlebnisräume

Ich hoffe darauf, dass meine Tochter dadurch, dass sie schon immer mit mir unterwegs ist, ein Gefühl dafür entwickelt, dass sie sich aus eigener Kraft vieles zutrauen kann. Schon jetzt kann sie unser Unterwegssein aktiv mitgestalten. Sie ist nicht einfach eine passive Beifahrerin. Wenn es der Tagesablauf zulässt, versuche ich ihr die Gelegenheit zu geben, Teilstrecken auf ihrem Rad oder zu Fuß zurückzulegen. In den schöneren Monaten des Jahres plane ich Picknickpausen mit ein. Das schafft wunderbare Ruheinseln im Alltag und verbindet das Alltagsradeln mit neuen, vielfältigen Erlebnisräumen.

Mittlerweile beobachte ich auch, dass meine Tochter ein ziemlich gutes Raumempfinden hat und sich in der nahen Umgebung auskennt. Sie merkt sofort, wenn ich eine abweichende Strecke fahre, oder fordert von mir, einen anderen Weg zu nehmen als den, den ich einschlagen will. Nicht nur mit Zielorten verbindet sie Erlebnisse und Emotionen, sondern auch mit bestimmten Strecken. Es gibt Wege, die sie besonders gerne fährt, und andere, die sie nicht mag.

Nicht zuletzt sind wir als Radelnde in einem kommunikativ offenen Sozialraum unterwegs. Gerade wenn man mit Kind auf Spezialrädern unterwegs ist, wird man sehr oft angesprochen. Ich mag diese Alltagsgespräche an der Ampel. Und ich glaube, dass die Offenherzigkeit und Kontaktfreude meiner Tochter auch etwas damit zu tun hat, dass wir unterwegs ständig in kommunikativer Interaktion sind und es für sie selbstverständlich ist, mit fremden Menschen ein paar nette Worte zu wechseln oder Blickkontakt aufzunehmen.

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Und wie ist es für mich? Es überwiegt das Gefühl von Fitness, Fortbewegungsfreude und Selbstwirksamkeit. In manchen Situationen bin ich aber auch an Grenzen gekommen. Teils hat sich das wie Ohnmacht oder Kontrollverlust angefühlt. Schwierig wird es etwa, wenn ich einen leichten Infekt habe. Kommt eine unangenehme Wetterlage hinzu, fühle ich mich sehr eingeschränkt. Ich lerne aber von Jahr zu Jahr mehr, dem sehr konsequent zu begegnen: mich rechtzeitig krankzumelden statt durchzuschleppen oder ein Taxi zu rufen statt die Zähne zusammenzubeißen. Weitere Belastungen bestehen im Termindruck in Kombination mit schwacher Tagesverfassung, schlechtem Wetter, schwierigen Wegeverhältnissen oder viel Zuladung. Diese Belastungsspitzen lassen sich durch gutes Equipment reduzieren. Im Winter finde ich es sehr angenehm, dick eingemummelt auf einem Pedelec zu sitzen und unter den fünf Jacken nicht ins Schwitzen zu kommen. Auch bei guter Funktionskleidung empfinde ich es unangenehm durchzuschwitzen, wenn es sehr kalt ist. Und leider lässt sich das Schwitzen im Mittelgebirge bei unmotorisiertem Kleinkindtransport nicht ganz vermeiden.

Auch im Winter sicher unterwegs

Bei winterlichen Wetterverhältnissen muss ich sagen: Wenn man nicht gerade einen Jeep mit Allradantrieb und Schneeketten hat, fährt es sich mit dem Rad sicherer. Das Fahrrad ist einfach leichter und besser kontrollierbar, die anderen Verkehrsteilnehmer auf dem gut ausgebauten Radwegenetz in Mittelhessen sind weit genug entfernt oder gar nicht da. Und wenn man mal in den Graben rutschen sollte, kommt man auch wieder raus. Meist ist eine Schneedecke mit guter Bereifung und einem ausbalancierten Rad aber ohne Weiteres befahrbar. Sitzt meine Tochter mit auf dem Rad, schütteln zwar einige den Kopf, wenn ich vorbeifahre. Mein Sicherheitsempfinden ist aber so lange nicht beeinträchtigt, wie ich vom Autoverkehr räumlich getrennt bin und es sich nicht um Glatteis, sondern um Schnee handelt.

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Wie werde ich von anderen wahrgenommen? Viele scheinen zu denken, ich habe den ganzen Tag sonst nichts zu tun. Das ist freilich nicht der Fall. Die Komplexität, der Zeitbedarf und die Belastung durch das Radfahren wird von Autofahrenden extrem überschätzt – und es wird unterschätzt, wie anstrengend und zeitraubend Autofahren ist! Da zumindest bei uns die Autowege durchweg deutlich länger als die Radwege sind und Mittelhessen eine Paradiesregion für Radfahrer ist, ist die Zeitersparnis marginal – rechnet man Ausgleichssport für die Autofahrenden dazu, ist sie nicht vorhanden.

Radfahren mit Kind als Alltagsmobilität ist gut möglich und bietet viele Vorzüge. Und es prägt in vielerlei Hinsicht das Lebensgefühl und die Alltagsgestaltung. Es lohnt sich, sich darauf einzulassen. Wirklich Spaß machen höhere Mobilitätserfordernisse allerdings tatsächlich erst mit einer adäquaten Ausstattung. Dazu gehört die Bereitschaft, sich das ein oder andere hochpreisige Vehikel zuzulegen. Kann man dadurch das Auto ersetzen, steht unterm Strich aber ein dickes Plus! Das entscheidendste Kriterium für die Radmobilität mit Kind ist aufgrund des gesteigerten Sicherheitsbedürfnisses aber das Vorhandensein eines sehr guten naturnahen und verkehrsfernen Radwegenetzes. Das haben wir hier in weiten Teilen und dafür bin ich jeden Tag dankbar.

Zur Autorin

Ricarda Heymann ist studierte Theologin und arbeitet derzeit als Referentin in einem evangelischen Verband. Außerdem ist sie Fortbewegungs- und Frischluftfanatikerin, beschäftigt sich mit Mobilität unter ökologischen und sozialen Gesichtspunkten. Das Fahrradfahren ist für sie eine wunderbare Kulturtechnik, die vieles verbindet: Welt und Mensch, Technik und Natur. Außerdem glaubt sie, dass Radfahren glücklich macht – missionarisch und moralapostelig will sie nicht sein. Aber »wes das Herz voll ist, des geht der Mund über« …