Ausgabe 32 · Juni 2021
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Lieblingsrad – Möhrchen
Möhrchen 1.0
Wenn man mich vor einigen Jahren gefragt hätte, welches mein Lieblingsrad ist, hätte ich ohne zu zögern mein englisches Randonneur-Rad »Mercian« (genannt Möhrchen) ins Rennen geschickt.

Seitdem hat sich meine Lebenssituation geändert, ich bin vom flachen
Hamburg mit den langen Arbeitswegen ins hügelige Clausthal mit nur
Möhrchen ist nach wie vor hochgeschätzt, weil es die meisten Kilometer und die längste Zeit mit mir verbracht hat, aber in der Nutzung steht es nicht mehr an erster Stelle. Den Platz hat jetzt ein selbst zusammengebautes MTB, einfach weil es die berggängigere Übersetzung hat und die Anhängerkupplung für den neuen großen Anhänger.
Also, was ist ein Lieblingsrad? Alle meine Fahrräder waren, mindestens zur Zeit der Anschaffung, Lieblingsräder. Entweder, weil es keine Konkurrenz gab (mit sechs Jahren ein Klapprad statt Kinderfahrrad) oder weil die Anschaffung ein besonderes Erlebnis darstellte. Angefangen vom ersten Motobecane-Rennsportrad (endlich das gleiche Rad wie der große Bruder!) bis hin zum maßgeschneiderten Rennrad, dem ersten Brompton oder dem ersten Liegerad. Immer war das Besondere auch ein Grund, es allen anderen Fahrrädern für eine geraume Zeit vorzuziehen. Wenn es dann in die Alltagssituation passte, umso besser.

Wann passt ein Rad in den Alltag? Es muss die Arbeitsstrecke bewältigen,
die richtige Menge Gepäck mitnehmen können oder mit dem ÖPNV
kombinierbar sein. Und vor allem muss es (heute) perfekt passen. Bis
ungefähr zu meinem 30. Geburtstag war mir das ziemlich egal. Ich konnte
alles fahren. Das Klapprad hatte zu lange Kurbeln, das Motobecane wurde
mir mit einer Rahmengröße von

Ganz anders Möhrchen. Möhrchen war ein Spontankauf aus aktueller Not heraus. Ich trainierte gerade für Trondheim–Oslo und mein Trainingsrad, ein leichtes und nicht sehr teures Randonneur-Rennrad, fiel (mal wieder) auf einem Hamburger Radweg einem entgegenkommenden Radfahrer zum Opfer. Ich stand mitten in der Trainingssaison ohne vernünftiges Fahrrad da. Das maßgeschneiderte Rennrad war noch nicht in Sicht, es kam erst zwei Wochen vor dem Rennen. Ich brauchte eigentlich nur einen Rahmen. Von meinen Radfahrkollegen bekam ich den Tipp, es in einem speziellen Fahrradladen zu versuchen, und dort wurde mir ohne großes Federlesen der »Mercian«-Rahmen in die Hand gedrückt. Ich hatte damals keine Ahnung, was genau ich da kaufte, nur endlos tiefes Vertrauen in die Empfehlung meiner Freunde und in den Laden.

Was Möhrchen bis heute den Titel »Lieblingsrad« verschafft hat, ist die
pure Lebensdauer des Rades von immerhin
Der Rahmen war perfekt. Die Größe stimmte und ich baute innerhalb von wenigen Tagen das Rad auf. Zum größten Teil natürlich mit den Teilen von dem geschrotteten Rad. Das Training konnte fast nahtlos fortgesetzt werden. Das Rennen fuhr ich mit dem maßgeschneiderten Rennrad, hatte mich aber schon längst allein wegen der vielen Trainingskilometer in das schwarze Möhrchen verliebt.

Ein wesentlicher Punkt war mit Sicherheit die gute Geometrie des
Rahmens. Dank des Rennlenkers war der Abstand zwischen Sattel und Lenker
für mich groß genug und der Lenker ausreichend tief. Ich konnte endlos
lange mit dem Rad fahren. Trainingseinheiten bis zu

Im Lauf der Jahre durchlief das Rad eine technische Metamorphose. Allein die Lichtanlage reichte vom Nordlicht-Dynamo über FER-Speichendynamo über RENAK-Nabendynamo bis hin zum SON. Wobei der RENAK erstaunlich lange seinen Dienst tat. Nur bei Temperaturen unter 10°C fing er an, Geräusche zu machen. Erst die Teilnahme an der Vätternrundan 2008 in Schweden gab genügend Anlass umzusteigen, da durfte dann auch eine Vorserie des Edelux-Scheinwerfers nicht fehlen.

Technische Veränderungen kamen dann aufgrund von normalem Verschleiß. Die Felgen wurden erneuert, der Lenker ausgetauscht und irgendwann zeigte der alte Motobecane-Drahtgepäckträger, der es immerhin bis zum Möhrchen geschafft hatte, einen Dauerbruch und wurde ersetzt. Was sehr lange durchgehalten hat, ist das Tretlager, ein gutes, altmodisches Konuslager, einmal perfekt eingestellt und spielfrei leichtgängig.
Allerdings muss ich gestehen, dass ich für den echten Winterbetrieb mit Schneematsch und gesalzenen Straßen immer ein spezielles Winterrad hatte. Am Anfang einen NSU-3-Gang-»Trecker«, später musste die Valentina dafür herhalten und danach ein robustes PATRIA Terra.

Im Jahr 2015 ist Möhrchen
2018 wollte ich Möhrchen dann aus seinem Kellerdasein im Harz befreien und habe eine berggängige Übersetzung eingebaut. Gefahren bin ich es dann aber kaum, weil ich häufig im Laufe des Tages meinen großen Anhänger für Fahrten zur Post brauche und die Kupplung dafür ist nur an dem MTB und an dem PATRIA. In der Hamburger Zeit hatte ich einen Vitelli-Anhänger mit einer unglaublich simplen Befestigung am Hinterbau, die ich mühelos am Randonneur montieren konnte.

Der Vitelli wurde mir aber zu klein, sodass ich jetzt einen
Als ich Möhrchen für ein Rennradtraining einsetzen wollte, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass es einen Rahmenbruch erlitten hatte. Ein Dauerschwingbruch auf der Unterseite des Oberrohrs, direkt hinter der Steuerkopfmuffe. Höchstwahrscheinlich in einem Zeitraum von höchstens sechs Monaten entstanden. Warum? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Die Unterseite des Oberrohrs ist nicht gerade die höchstbelastete Stelle, zumal das Unterrohr völlig unbeschädigt war.

Nach dem ersten Schock kamen dann pragmatische Überlegungen. Von »an die Wand hängen zum Angucken« bis hin zu »kann man doch bestimmt reparieren« war alles dabei. Letztendlich habe ich mit der Firma Mercian in England Kontakt aufgenommen und Bilder geschickt. Man sagte mir sofort eine Reparaturmöglichkeit zu. Und das wollte ich tun. In wenigen Wochen, wenn ich etwas mehr Luft haben würde, würde der Rahmen gestrippt (hoffentlich kriege ich das Tretlager jemals wieder so perfekt eingebaut!) und das Rad nach England geschickt. Da das Oberrohr ersetzt werden muss und sowieso eine Neulackierung ansteht (bitte das gleiche Dekor!), würde ich auch noch ein paar andere Dinge machen lassen. Zum einen haben sich die Einsätze im oberen Bereich der Sattelstreben scheinbar gelockert, denn man konnte schon vor einigen Jahren dort eine Trennung im Lack beobachten. Da diese Streben aber fast nur Druck übertragen, habe ich das nie als Problem gesehen. Außerdem hat sich mit der Zeit die Sattelklemmung so stark zusammengezogen, dass sie auf Anschlag ist. In so einem Fall ersetzt man die Muffe und ein kleiner »Schönheitsfehler« könnte bei der Gelegenheit auch beseitigt werden: Die Canti-Sockel sitzen zu hoch!


Möglicherweise, und das passt zum Kaufdatum 1990, war der Rahmen noch
für das alte 27″-Maß konzipiert, nämlich 630 ETRTO. Im Radius
Wenn alles klappen würde, gäbe es für Möhrchen eine Wiedergeburt. Möhrchen 2.0!
Fast zwei Jahre später: Möhrchen ist wieder da!
Nachdem ich den Rahmenbruch festgestellt hatte, hatte ich erst mal keine Zeit, das Rad auseinanderzubauen. Ich schaffte es erst im April 2020, aber es war Corona und die Firma Mercian arbeitete nicht. Im August war es dann so weit. Der Rahmen ging auf Reisen und kam ungefähr sechs Wochen später frisch lackiert und an allen genannten Punkten verbessert zu mir zurück. Das Tretlager musste leider doch ersetzt werden, ohne Kurbeln konnte man die Rauigkeit des Lagers spüren, deshalb musste es erneuert werden.

Alle anderen Bauteile waren innerhalb von vier Stunden montiert und am
nächsten Tag habe ich damit meine erste Trainingsrunde im Oberharz
gedreht. Wir hatten Glück und konnten eine tolle Abfahrt auf
babypoglattem Asphalt genießen. Die Straße war neu gemacht und für den
Kfz-Verkehr noch gesperrt. Später zeigte meine Pulsuhr, dass ich
Firma Mercian hat alle Arbeiten so ausgeführt, wie ich es vorgeschlagen
hatte. Die Bremsen konnten endlich problemlos eingestellt werden und
auch die Sattelklemmung war wieder frisch mit einer neuen Muffe. Die
Lackierung wurde genau so wiederhergestellt, wie sie vor
Letztens habe ich dann noch einen Missstand, der fast seit Anbeginn
bestand, korrigiert. Der Umwerfer hatte mal seine Distanzhülse am Ende
des Leitbleches verloren und dort war nur eine schlichte Schraube, die
aber den Abstand nicht sicher gewährleistete und trotzdem

Zur Autorin
Juliane Neuß,
von Beruf Technische Assistentin für Metallographie und
Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie und Fahrräder für
kleinwüchsige Menschen. Betreibt seit 1998 die Firma
Junik-Spezialfahrräder, hat
sechs Jahre lang die Filiale eines Fahrradladens in Hamburg geleitet
und viele Jahre den Techtalk in der ADFC-Radwelt geschrieben. Sie ist
seit 2016 Inhaberin der »Fahrradschmiede 2.0« in Clausthal-Zellerfeld,
ihrem Heimatort, und hat dort auch eine Brompton-Spezialwerkstatt.